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Christine und Margaret Wertheim - Austrian Satellite Reef: Korallenriff, 1 x gehäkelt, bitte!

Die Anziehungskraft des Hyperbolic Crochet Coral Reef (hyperbolisches Häkel-Korallenriff) der australisch-amerikanischen Schwestern Margaret und Christine Wertheim wird seit dem 4. Oktober im Schlossmuseum Linz, Oberösterreich, erneut unter Beweis gestellt. Das Austrian Satellite Reef ist das 51. Projekt weltweit, das die Fantasie und Gestaltungsfreude von über 2.000 Beteiligten (99,9 % Frauen!) zur Entfaltung brachte und all die fantastischen Einzelkorallen – es sind geschätzt 30.000 bis 40.000 Exemplare diverser Größe – entstehen ließ. Das Grundprinzip für die Korallen ist überall gleich, doch die ortsspezifischen Ausformungen sind jeweils Referenzen zu den geologischen bzw. kulturellen Gegebenheiten.

Für die Linzer Ausstellung wünschte sich Christine Wertheim, die das künstlerische Farbkonzept erstellte, z.B. auch explizit Objekte mit der Kombination Rot-Weiß, als Verweis auf die Kreuzstich-Muster, die in der Region traditionell in Rot auf weißen Grund gestickt wurden. In strengem Gelb-Schwarz-Kontrast gehalten ist das erste Riff-Objekt, das die Besucher empfängt. Ein baumartiger Aufbau mit Verästelungen, gebildet aus schier unzähligen Einzelteilen - sich wellig auffächernd, rüschig, Rosetten bildend, fädig aus Röhren quillend, phallisch abgespreizt, kaskadig herabhängend. Das Garn ist gesprenkelt oder ein leuchtend sonniges Gelb mit krass konturierenden Schwarz-Einfassungen oder umgekehrt, es finden sich stachelige Einsprengsel von glitzriger Kunstfaser, Pailletten-oder Perlen-Ränder...

Als knalliger Farbrausch präsentiert sich dahinter das „Clown-Reef“, wie es von der Künstlerin freundlich genannt wurde. Hier tummeln sich eng gedrängt die wundersamsten Formen, die man aus festen Häkelmaschen und Stäbchen hervorzaubern kann, und das in gekonnt-gewagten Farbkombinationen. Eine unfreundliche Betrachtungsweise würde glattweg „kitschig“ sagen und damit versäumen, sich von der faszinierenden Kuriosität verblüffen zu lassen und den Sog in die vielen Details verpassen. Diese beiden Ensembles sind nur der Vorgeschmack auf das, was hinter den Einbauten der naturkundlichen Abteilung des Museums – die lebende Korallenaquarien beinhaltet (!) – noch geboten wird. Neben mehreren neu entstandenen, voluminösen Häkel-Riffen werden als besodere Highlights kleinere exqusite Einzelensembles, die Pod Worlds, gezeigt bzw. herausragende, raffinierte Arbeiten aus früherer Produktion, der Core Collection. Unbedingt dabei ist das Bleached Reef, das schon 2006 begonnen wurde und auf den alarmierend kritischen Zustand von Korallen verweist. Neu dazu kombiniert wurde die großflächige Riffwand Five Fathoms Deep (Fünf Klafter tief) aus dem Vorjahres-Projekt im Museum Frieder Burda. Der „Klimt-Frieze“ (in Anlehnung an Klimts Beethoven-Fries in der Wiener Secession) breitet sich auf 8 mal 2 Metern als Farborgie in Violett, Grün und Gelb/Gold zwischen weißem Boden und schwarzem Himmel aus und spielt mit dem Gefühl des Fin de Siecle...

Seit 2005 bringen die Mathematikerin und Wissenschaftsjournalistin Margaret Wertheim und Zwillingsschwester Christine Wertheim (*1958), die Autorin, Performerin und Kunst-Universitätsprofessorin, ihr mehrschichtiges Konzept einem breiten Publikum nahe. Bereits zwei Jahre zuvor hatten sie in Los Angeles das Institute For Figuring gegründet, das die poetischen und ästhetischen Dimensionen von Wissenschaft und Mathematik einer breiteren Öffentlichkeit nahebringt. In ihren beiden Fachgebieten Mathemathik und Kunst geht es um Abstraktion, Ableitung von Gegebenheiten oder Veranschaulichung und Sichtbarmachung von Theorien. - So bestand bis in die 1990er Jahre ein mathematisches Dilemma darin, dass neben der euklidischen (die Ebene betreffend) und der sphärischen (die Kugelform betreffend) zuletzt auch die hyperbolische Geometrie diskutiert wurde, deren Wölbungen/Vertiefungen, Auseinanderspreizungen etc. sich als schwer darstellbar erwies. Obgleich beobachtet wurde, dass speziell Unterwasserlebewesen wie Korallen, Seetang, Meeres-Schwämme und Nacktschnecken, aber auch z.B. Eichblattsalat diesem Prinzip der Oberflächenvergrößerung folgen. Die lettisch-US-amerikanische Mathematikerin Daina Taimina hatte schließlich 1997 die bahnbrechende Lösung, hyperbolische Formen durch Häkelmodelle zu veranschaulichen. Es waren einfarbige, rein geometrisch zweckmäßige Objekte.

Anknüpfend daran griffen auch Margaret und Christine Wertheim auf die ihnen von Kindheit an bekannte Technik des Häkelns zurück und schufen mit leuchtenden Farben spannende neue Exemplare: Korallenformen. Denn als gebürtige Australierinnen wollten sie auf das sich anbahnende Drama im Great Barrier Reef - der größten von Lebewesen geschaffenen Struktur der Erde, die sogar vom Weltraum aus zu sehen ist – aufmerksam machen. Dort wurde schon 2002 das Ausbleichen bzw. Absterben von 60 % der Korallen durch erhöhte Meerestemperatur festgestellt.

Somit hat das ins Leben gerufene Projekt Hyperbolic Crochet Coral Reef neben dem mathematischen und künstlerischen vor allem einen ökologischen Aspekt. Wobei dieser sowohl die Erwärmung des Meerwassers durch den Klimawandel als auch die Meeresverschmutzung mit Plastikmüll adressiert. Insofern gehört die Verwendung von Kunststoffschnüren, in Streifen geschnittene Plastiktüten oder sogar Noppenfolie wie auch Kabelbinder zum Materialrepertoire. Den wichtigen partizipativen, sozialen bzw. kollektiven Aspekt bekam das Projekt durch die Beiträge tausender Akteurinnen, die einzeln oder in Workshops (zusammen-)arbeiteten. Dies entspricht wiederum wunderbar der Entstehung der Korallenkolonien, deren Aufbau über die Jahrhunderte sich aus unnennbar, unschätzbar vielen Einzelindividuen zusammensetzt. Dadurch, dass es den Wertheim-Schwestern äußerst wichtig ist, die Namen aller, ja aller (ggf. Tausender) Häkelnder in der Ausstellung sichtbar aufzulisten - wobei der Aufruf zur Teilnahme nicht nur allgemein an die Bevölkerung, sondern spezifisch an Schulen oder Institutionen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen gerichtet wurde - wird jedes Korallenriff-Satellit-Projekt auch ein feministisch-integratives Vielfalts-Projekt. Und darüberhinaus auch noch subversiv gegenüber dem Kunst- und Museumsbetrieb, der überwiegend von anerkannten oder aufstrebenden (Berufs-)KünstlerInnen gespeist wird und nicht von „jederfrau“.

Wenn es eine Zusage der Künstlerinnen für ein Korallen-Satellit-Projekt gibt, erwartet das Ausstellungs-Management sicher nicht „business as usual“. Nach eingehender Recherche und Vorbesprechung liefert Christine Wertheim ihre künstlerischen Vorgaben und am Computer collagierte Entwürfe für mögliche Riff-Konstruktionen. So sollten für Linz insbesondere die schon erwähnten Rot-Weiß-Objekte eingefordert werden, desgleichen wurde die Forcierung von Blau-Weiß gewünscht als Verweis auf die Tradition des Blaudrucks und Schwarz-Gold als Anleihe bei den typischen Trachten-Goldhauben in Oberösterreich. Sollte das Gold durch strahlendes Gelb ersetzt worden sein (s. o.), so wäre dies jedenfalls ein Echo auf das monarchische Österreich und den schwarzen (Doppel-)Adler auf gelbem Grund und bietet eine gedankliche Erweiterung auf das aktuelle Bundesgebiet. Immerhin befindet sich im Schlossmuseum Linz nun das größte Korallenriff Österreichs. 

In einem Häkelaufruf wurden die spezifischen Zielsetzungen vorgestellt, mit Betonung darauf, dass alle eigenständigen Interpretationen gleichermaßen willkommen sind. Eine Häkelanleitung per Video wurde zur Verfügung gestellt, Häkelrunden, Workshops, Informationen angeboten und Abgabestellen eingerichtet.  War der Großteil der eingesandten Arbeiten aus dem direkten Umkreis, so kamen Pakete mit Korallen vor allem auch von Wien und aus Vorarlberg; es war erfreulich, erstaunlich, schier überwältigend. Denn aus den tausenden von Puscheln sollten nun Kunst-Korallen-Riffe erwachsen. Das gelingt nur durch rigoroses sortieren – nach Farbe, Typus, Größe, ggf. Originalität. Bei einem einwöchigen Besuch von Christine Wertheim wurden die Gruppierungen festgelegt und Größe und Grundform einzelner Riffe skizziert. Es gab auch eine Erweiterung der Formensprache durch Stäbe, die mit Rüschen schlängelnd umwunden waren. Kaum zu glauben, dass noch einmal so viele abgegebene Beiträge auf ihre Positionierung in einem Riff warten... deren Aufarbeitung und Konservierung ist der Plan, ebenso wie eine Dokumentation des Projektes als Katalog.

Mehr Texte von Aurelia Jurtschitsch

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Christine und Margaret Wertheim - Austrian Satellite Reef
05.10.2023 - 02.04.2024

Schlossmuseum Linz
4020 Linz, Schlossberg 1
Tel: +43-732 77 20-52502
Email: info@ooelkg.at
http://www.ooekultur.at
Öffnungszeiten: Di-So, Fei 10-18 h


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