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Arsène Wenger und Bruce Nauman

Körper und Technologie des Abseits

Arsène Wenger, der ehemalige Manager von Arsenal London, ist seit seinem Ruhestand als Berater für den Fußball-Weltverband FIFA tätig. Seine Aufgaben umfassen die wissenschaftliche Analyse von Fußballspielen sowie Überlegungen, um die Attraktivität des Sports zu steigern. Wenger legte kürzlich einen zukunftsweisenden Vorschlag zur Neuauslegung der Abseitsregel vor, der bereits in einigen Ligen wie Italien und den Niederlanden getestet wird. Statt zu entscheiden, ob ein Körperteil zu nah am Tor steht, soll zukünftig der gesamte Körper über Abseits entscheiden. Es geht nicht mehr darum, ob ein Zeh zu weit nach vorne ragt, sondern ob die Ferse noch weit genug hinten ist.

Wengers Vorschlag wird die Diskussionen über Fehlentscheidungen nicht beenden. Millimeterentscheidungen werden weiterhin maßgeblich bleiben. Um Abseits-Situationen korrekt beurteilen zu können, bleibt die technologische Unterstützung der Assistenz-Referees an den Linien auch zukünftig unausweichlich. Dies gilt auch nicht als Problem, weil im Fußball, ähnlich wie im Tennis oder Cricket, schon seit längerem computergestützte Bild- und Bewegungsanalysen in Anwendung sind. Mathematische Analysen realer Situationen gehen auf eine längere Geschichte der Bildauswertung zurück. Sport, Bild und Berechnung sind seit langem verzahnt. Die fotografische Bildanalyse begann bereits im 19. Jahrhundert. Étienne-Jules Marey entwickelte 1890 den »Chronophotographen«, eine Kamera, die Bewegungen mit hoher Geschwindigkeit aufzeichnen und in Zeitlupe abspielen konnte. Später wurde diese Technologie von Thomas Edison weiterentwickelt. Es ist aus kulturhistorischer Sicht interessant festzustellen, dass die erste Abseitsregel 1869 eingeführt wurde, im gleichen Jahr, in dem Muybridge die ersten Aufnahmen von sich bewegenden Bildsequenzen erstellte.

Die heutige Zeitlupe ist eine Weiterentwicklung der Erfindungen von Muybridge. Er testete sie übrigens nicht allein am Menschen, sondern auch an verschiedenen Gangarten von Pferden. Die Schrittfolge beim Galopp war zu seiner Zeit ungeklärt. Generell erfasst die Zeitlupe Bewegungen mit einer höheren Bildrate als die Wiedergabegeschwindigkeit. Die Präzision hat sich seit den ersten Experimenten erheblich verbessert. Zeitlupe kann heute bis zu zehnmal höher sein als die 24 Bilder pro Sekunde, die das menschliche Auge benötigt, um Bewegungen wahrzunehmen. Dennoch reicht dieser Detaillierungsgrad oft nicht aus, um Abseitsentscheidungen zu treffen. Daher werden computergestützte Technologien eingesetzt. Im Spitzenfußball und bei internationalen Spielen kommt schon seit einigen Jahren die »Hawk-Eye-Technologie« zum Einsatz. Diese Technologie basiert auf bildverarbeitenden Algorithmen, die Ansichten aus verschiedenen Kameraperspektiven zusammenfassen und analysieren. Relevante Informationen werden extrahiert und von einem zentralen Computer in ein 3D-Modell umgewandelt. Das System zielt auf Synchronizität und Polyperspektivität, es versucht, einen Punkt in der Zeit räumlich aus mehreren Ansichten zu arretieren. Beim Abseits vergleicht das System die Passabgabe und den Impuls des Balls mit den Bewegungsprofilen der verteidigenden und angreifenden Spieler*innen und visualisiert deren Bewegungsprofile.

Ähnliche Technologien werden schon länger im Torbereich eingesetzt, um festzustellen, ob der Ball die Torlinie vollständig überschritten hat. Die historische Ursache für die Herausbildung dieser und ähnlicher Technologien ist das berühmte Tor im WM-Finale von 1966 zwischen Deutschland und England, bei dem der Ball von der Querlatte auf den Boden sprang und von einem Verteidiger geklärt wurde. Der Schweizer Schiedsrichter entschied auf Tor, wobei diese Entscheidung fragwürdig war und bis heute umstritten geblieben ist.

Im Jahr 1967, nur ein Jahr nach dem WM-Finale, nahm Bruce Nauman eine Performance mit einer Videokamera auf. Nauman zeichnete ein Quadrat auf dem Boden seines Ateliers, das als räumliches Raster diente. In der Hand hielt er zwei Bälle, die er auf einem Klebeband fixiert hatte, um sie auf die Linien des Studios springen zu lassen. Das Werk kann als eine Art Veranschaulichung des berühmten Tors von Wembley betrachtet werden, obwohl Nauman keine Beziehung zum Fußball hat. Seine Vorliebe galt damals wie heute den Pferden.

Nauman, der sich in seinen Werken mit Wiederholung, Stress und physischer Belastung auseinandersetzt, versuchte, sich wie in einer Trainingseinheit ein bestimmtes Bewegungsmuster aufzuerlegen und während der Performance beizubehalten. Sein Scheitern war dabei durchaus einkalkuliert. Tatsächlich gelang es ihm nicht, die Bodenmarkierungen mit den Bällen zu treffen. Um die Präzision zu erhöhen, schlug er die Bälle härter. Dadurch wurden seine Bewegungen zunehmend sprunghaft, grob und ungelenkig. Ein wenig wirken sie wie erstarrte Bilder einer Sportübertragung und Simulation von ungesehenen Situationen. In einer anderen Arbeit aus demselben Jahr malte Nauman ein doppeltes Viereck auf den Atelierboden. Diesmal ging er disziplinierter und ruhiger vor. Er nahm sich vor, das Liniengerüst langsam abzuschreiten. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Danach ging er rückwärts. Seine Schrittfolge geriet durch den Orientierungsverlust zunehmend aus dem Gleichgewicht. Nauman musste mit den Armen rudern, um sich in der Balance zu halten. Der gedachte und der durch den Körper besetzte Raum gerieten in Konflikt. Nauman drohte ins Abseits zu gleiten. Das langsame Abschreiten bewirkte aber noch anderes. Ungewöhnliche Körperstellungen wurden deutlich, zum Beispiel Spiel- und Standbein auffällig, sowie generell Posen, die an den Kontrapost einer antiken Statue erinnern. Tatsächlich ist der Bezug zur Skulptur in vielen Arbeiten Naumans beabsichtigt. Zudem wurden seine beiden Performances mit dem Tanz in Verbindung gebracht, da sie von Meredith Monk, einer bekannten Choreografin, mitentwickelt worden waren.

Neben diesen Aspekten sollte nicht übersehen werden, dass Naumans Performances auch andere Bezüge mit sich führten. Sie orientierten sich am Filmischen, genauer am Medium des Videos. Naumans Videos sind nämlich nicht nur von der typisch kristallinen Oberfläche gekennzeichnet, sondern auch mit der Zeitvorstellung verbunden, die den Videobändern eingeschrieben ist. Die Filme wurden ungeschnitten präsentiert. Nauman zirkelte nicht nur am Boden einen Rahmen, sondern unterwarf sich auch der Dauer, die durch die Länge der Bänder vorgegeben war. Je mehr er sich bemühte, diese Grenzen zu respektieren, desto mehr versuchte er auch, zeitliche Irritationen innerhalb des Rahmens zu testen, zum Beispiel durch stark verlangsamte Bewegungen. In einigen Videos scheint es so, als würde Nauman die Zeitlupe mittels des eigenen Körpers imitieren. Diese Verfremdungen wurden damals vermutlich stärker wahrgenommen als heute. Denn das spröde, ungelenke Verhalten ist uns durch die heutigen Technologien, die 3D-Modelle und andere Simulationen gut vertraut. In der Tat ähneln die Bilder, die den Videoschiedsrichter*innen des VAR und während der Entscheidungsphasen auch dem Publikum auf den Bildschirmen gezeigt werden, Naumans zeitverzögerten Körper- und Bewegungsstudien. Sie gleichen einander in den surrealen Bewegungen nahe am Kippen von Körpern. Die Abseitsbilder des Fernsehens gehen deshalb über den klassischen Kontrapost hinaus. Sie beziehen sich auf Bewegungsprofile, die sich als Muster der Verfolgung oder des Nachstellens beschreiben lassen. Denn sie stammen aus dynamischen Situationen, in denen eine Person der Bewachung einer anderen entwischt. Optisch gleichen diese Szenen den Darstellungen von libidinösen Übergriffen, wie sie aus der Kunstgeschichte lange bekannt sind. Manche erinnern an Episoden aus den Metamorphosen des Ovid. Darin versuchen liebestrunkene Helden oder Götter, ahnungslose Irdische zu behelligen oder gar zu rauben. Entscheidend ist dabei der Moment der Verwandlung. Der Moment der Metamorphose gleicht jenem der Entscheidung beim Sport. Während allerdings der VAR anhand eines eingefrorenen Bildes über Abseits befindet oder nicht, ist es bei Ovid eine rivalisierende Gottheit, die verhindert, dass zum Beispiel eine schöne Nymphe gestellt wird. Die Nymphe wird vor dem Zugriff gerettet, indem sie zuvor noch in einem Baum erstarrt. Nach Arsène Wenger, der die Offensive stärkt, hätten die Liebestrunkenen in Hinkunft allerdings mehr Chancen, zum Erfolg zu kommen.

 

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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